Zorn und Stille

Die Fotografin Billy Bana ist eine moderne Nomadin, ein rastloser Freigeist. In einem anderen Leben war sie Biljana Banadinović, die als Gastarbeiterkind in Wien aufwuchs. Aber mit dieser Identität und ihrer Familie hat sie früh gebrochen und von da an immer wieder alles und jeden hinter sich gelassen. Sogar ihren Bruder, dabei waren sie als Kinder unzertrennlich. Die einzige Konstante in ihrem Leben ist Ira Goldfarb, die Vertraute, Mentorin und Geliebte zugleich ist. Als Billy die Nachricht vom Tod ihres Vaters erreicht, holt die Vergangenheit sie wieder ein, kommen verdrängte Fragen und alte Schuldgefühle zurück. Allen voran: Wie konnte ihr Bruder bloß spurlos verschwinden? Und was für ein Leben hatten ihre Eltern sich erträumt, als sie Jugoslawien verließen?

Sandra Gugić schickt uns auf eine Zeitreise in die Geschichte einer Familie, die geprägt ist vom Trauma der Jugoslawienkriege. Schicht für Schicht legt der Roman die Bruchstellen zwischen Freiheit und Verantwortung, Liebe und Verlust, Herkunft und Selbstbestimmung frei. Kann man sich selbst neu erfinden? Und wenn ja, um welchen Preis?

- «Zorn und Stille» übertrifft das hochgelobte Debüt, «Astronauten», noch weit an analytischer Überzeugungskraft und erzählerischer Farbigkeit. Sandra Gugić lässt den Kontinent Jugoslawien noch einmal auferstehen, um einen grossen, einen großartigen literarischen Leichenzug zu veranstalten. - «Zorn und Stille» ist keine Ich-Erzählung über kontinentale Lebenswege, wie es mittlerweile viele gibt, sondern ein fast parabelhaftes Nachdenken über Lebensentwürfe und ihr Scheitern. Dass der Zerfall Jugoslawiens die grosse Klammer für eine zentrifugale Familiengeschichte ist, macht den eigentlichen Witz von Gugićs Roman aus. - «Zorn und Stille» ist ein wunderbar geglückter Roman über den Fortschritt. — Paul Jandl in der NZZ vom 5. August 2020, https://www.nzz.ch/feuilleton/sandra-gugic-erinnert-an-den-jugoslawienkrieg-ld.1569630